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Pflege bringt Depressionen

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Ohne pflegende Angehörige wäre es schlecht um die Betreuung Hilfsbedürftiger bestellt. FOTS: DPA

Unterstützung kommt langsam in Fahrt

Betreuende Angehörige beklagen finanzielle Risiken und fürchten Vernachlässigung der eigenen Familie

Von Gerald Dietz 

Die Pflege eines Menschen kann sehr erfüllend sein, ist aber auch belastend. Fast die Hälfte aller pflegenden Angehörigen in Deutschland neigt angesichts ihres Engagements offenbar selbst schon zu depressiven Verstimmungen. Das legt zumindest eine Untersuchung der Internationale Allianz von Pflegeorganisationen (IACO) nahe. Danach steigt die Zahl der Pflegebedürftigen und mit ihr auch die Zahl der betreuenden Angehörigen weltweit an. Allein in Deutschland kümmern sich über 3,2 Millionen Menschen unentgeltlich um Angehörige oder Bekannte.

Der Bericht untersucht die Unterstützungsleistungen, die pflegenden Angehörigen in den Ländern Deutschland, Frankreich, Italien, Spanien, Großbritannien, Australien, Kanada, Indien und den USA zur Verfügung stehen sowie die Situation der Betreuenden. Gefördert wurde er von Embracing Carers, eine internationale Initiative, die 2017 vom Pharmakonzern Merck in Zusammenarbeit mit führenden Pflege-Organisationen gegründet wurde.

Der Studie zufolge leiden schon 43 Prozent der pflegenden Angehörigen in Deutschland an depressiven Beeinträchtigungen. Mehr als ein Drittel hat bereits Hilfe wegen psychischer Probleme in Anspruch genommen. Über die Hälfte pflegender Angehöriger hat demnach das Gefühl, dass ihre persönlichen Beziehungen unter ihren vielfältigen Verpflichtungen leiden und sie deutlich weniger Zeit mit dem Partner oder der Familie verbringen. Jeder Fünfte rechnet zudem mit negativen Auswirkungen auf seine Karriere und sieht die finanzielle Absicherung für sich und seine Familie gefährdet. 62 Prozent der Befragten hierzulande gaben an, keine Zeit mehr für eigene Arztbesuche zu haben.

„Mit dem Bericht wollen wir politische Entscheider, Regierungen und internationale Gesundheitsorganisationen erreichen“, sagt Nadine Henningsen, Vorsitzende des IACO- Vorstands. Ihnen solle die Möglichkeit gegeben werden, „von weltweit bewährten Praktiken zu lernen, die auch in andere Gesundheitssysteme integriert werden könnten, um bessere Unterstützung und Anerkennung von pflegenden Angehörigen zu erreichen.“

Neben der persönlichen Situation der Betreuenden untersucht der Bericht auch die unterstützenden Maßnahmen, die pflegenden Angehörigen in den untersuchten Ländern zur Verfügung stehen. Aus den Ergebnissen leitet die Organisation sechs zentrale Handlungsfelder ab, die die Situation pflegender Angehöriger entscheidend verbessern können: Dazu zählen die gesetzliche Anerkennung der pflegenden Angehörigen durch den Staat, eine gesetzlich geregelte finanzielle Unterstützung und garantierte Rentenzuschüsse, gesonderte Arbeitsvereinbarungen zur Verbesserung der Vereinbarkeit von Beruf und Pflege, die Möglichkeit einer temporären oder längerfristigen Freistellung von der Arbeit sowie den Zugang zu entsprechenden Pflegekursen.

Einige der Reformvorschläge wie ein geregeltes Pflegegeld, Rentengutschriften oder Unfallversicherungen für anerkannte pflegende Angehörige sind in Deutschland zwar schon umgesetzt. Der Bericht macht dennoch deutlich, dass pflegende Angehörige auch hierzulande trotz der gesetzlichen Anerkennung ihres Status immer noch häufig mit bürokratischen Hürden zu kämpfen haben, um Unterstützung bei der Betreuung und Pflege zu erhalten.

Arbeiten und Pflegen

Nur große Firmen sind bei Entlastungsangeboten gut aufgestellt

Dass die Unterstützung pflegender Angehöriger in Deutschland im Beruf noch ausbaufähig ist, zeigt eine Umfrage des Zentrums für Qualität in der Pflege (ZQP). Dort gaben 59 Prozent der Firmen an, betriebsinterne Angebote zur Entlastung weder anzubieten noch zu planen. Befragt wurden Personalentscheider in Unternehmen ab einer Größe von 26 Mitarbeitern. Bei der Befragung zeigte sich auch: Große Firmen sind bei diesem Thema besser aufgestellt. Knapp zwei Drittel (64 Prozent) der Unternehmen mit mindestens 250 Mitarbeitern bieten nach eigenen Angaben Maßnahmen für pflegende Beschäftigte. Bei Firmen mit 50 bis 249 Mitarbeiten lag der Anteil bei 40 Prozent, bei kleineren Betrieben bei 23 Prozent.

Neun von zehn Firmen, die betriebliche Angebote haben, bieten flexible Arbeitszeiten oder Zeitkonten an. In fast zwei Dritteln (63 Prozent) dieser Unternehmen haben pflegende Mitarbeiter die Option, im Home-Office zu arbeiten. Viele Firmen offerieren eine zeitlich befristete Freistellung von der Arbeit (68 Prozent) oder individuelle Absprachen (78 Prozent).

Abgesehen von betriebsinternen Angeboten haben Beschäftigte, die Angehörige pflegen, seit 2015 Rechtsansprüche auf unterstützende Maßnahmen, wie das ZQP in der Analyse erklärt.

Dazu zähle etwa die Möglichkeit, bis zu zehn Tage freizunehmen, um für nahe Angehörige die Pflege zu organisieren. Oder eine Freistellung bis zu sechs Monaten zur Pflege Angehöriger sowie bis zu drei Monaten, um Schwerkranke in der letzten Lebensphase zu begleiten. In 59 Prozent der Firmen hat laut der Umfrage noch kein Mitarbeiter so eine Möglichkeit wahrgenommen.

Nach Angaben des ZQP lag die geschätzte Zahl von pflegenden Erwerbstätigen 2012 bereits bei 2,6 Millionen.

Verwirrende Post

Pflege- und Krankenkassen nutzen Unsicherheiten der Versicherten aus

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Die Unabhängige Patientenberatung ist gemeinnützig und hilft Ratsuchenden im deutschen Gesundheitssystem. FOTO: DPA

Pflege- und Krankenkassen verunsichern ihre Versicherten offenbar zunehmend mit verwirrenden Schreiben etwa zu Widersprüchen nach abgelehnten Forderungen. Das beklagt die Unabhängige Patientenberatung Deutschland (UPD). Demnach kontaktieren die Organisation immer mehr Versicherte, weil sie von ihren Kassen aufgefordert werden, einen Widerspruch zurückzunehmen oder Hinweise erhalten, dieser habe keine Aussicht auf Erfolg.

Durch dieses Vorgehen – das vom vorgegebenen Verwaltungsweg abweicht – werde häufig die Unwissenheit der Versicherten ausgenutzt, so die UPD. Denn wer vorschnell einer Rücknahme eines Widerspruchs zustimmt, verzichtet demnach auf den vorgesehenen Rechtsweg.

Die verwirrende Kommunikation vieler Kassen macht sich in der Beratung der Organisation deutlich bemerkbar: In rund 44 000 Fällen mussten die UPD-Berater demnach 2017 den Ratsuchenden ihre Rechte gegenüber den gesetzlichen Pflege- und Krankenkassen erläutern. Gegenüber dem Vorjahr, als dies nur für 27 000 Beratungen galt, ist das ein sehr deutlicher Anstieg.

Vor allem Ratsuchende, die ohne echten Anlass verwirrende Schreiben ihrer Kasse erhalten, sollten stutzig werden, rät die UPD. „Insbesondere bei Zwischeninformationen für Versicherte sehen wir zunehmend Schreiben, die wie echte Entscheidungen wirken oder die Versicherten zu einer Rückmeldung auffordern, obwohl es dazu überhaupt keinen Grund gibt“, erklärt Geschäftsführer Thorben Krumwiede. Häufig verfassten die Kassen die Briefe in einer vereinfachten Behördensprache. Was auf den ersten Blick leicht verständlich daher komme, verschleiere oft die Möglichkeit, die Klärung im Widerspruchsverfahren abzuwarten, so Krumwiede. Ein solches Verfahren stehe aber jedem Versicherten zu. Wer seine Rechte nicht kenne oder die Rücknahmeaufforderung der Kasse mit dem echten Widerspruchsentscheid verwechsele, fühle sich schnell gedrängt, auf die weitere Überprüfung der Ansprüche zu verzichten.

Dabei sind Zwischeninformationen dieser Art laut Krumwiede nach Auffassung des Bundesversicherungsamtes (BVA) unzulässig. Viele Ratsuchende schilderten zudem, dass sie von Mitarbeitern der Kranken- und Pflegekassen sogar telefonisch kontaktiert und zur Rücknahme des Widerspruchs aufgefordert wurden. gd

Info Die UPD ist mit der kostenlosen Beratung unter der Nummer 0800/011 77 22 an 80 Stunden in der Woche erreichbar.

Unterstützung kommt langsam in Fahrt

Für den Global-State-of-Care-Bericht wurden 3516 unbezahlte Pflegekräfte in sieben Ländern befragt. Die Pflege durch Angehörige hat sich demnach nicht nur in Deutschland, sondern weltweit zu einem der wichtigsten sozial- und wirtschaftspolitischen Themen entwickelt.

Regierungen und Länder würden weltweit langsam damit beginnen, Maßnahmen und Förderungen aufzusetzen, um pflegende Angehörige zu unterstützen, heißt es seitens der europäischen Vereinigung zur Interessenvertretung pflegender Angehöriger Eurocarers.

Trotzdem blieben viele politische Initiativen zu häufig zersplittert. Eurocarers hofft, dass der vorliegende Bericht dazu beitragen wird, dringend benötigte und koordinierte Maßnahmenpakete zu entwickeln, um pflegende Angehörige weltweit zu unterstützen.